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Die Freiheit der Meinung setzt voraus, daß man eine hat (Heinrich Heine)

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Montag 25. Mai 2009

Es ist unfair, Regierungsparteien an ihren Wahlversprechen zu messen
Franz Müntefering, 2006

 

Wie steht’s um unsere Demokratie?

Perikles   

Perikles

Seit einigen Tagen stelle ich fest, daß ich nicht schnell genug bin: Viele Themen werden inzwischen tsunamiartig von anderen Bloggern bearbeitet. Schön, das spart Zeit. Und es ist für mich befreiend. So sehe ich wenigstens, daß ich mit meiner Meinung nicht allein stehe. Das könnte mich natürlich auch mißtrauisch machen, aber ich bin nicht Oscar Wilde.

Was waren denn nun die Themen? Zum einen die Kandidatin Gesine Schwan. Im Fernsehen war sie gefragt worden:

Wie fühlen Sie sich vor der Wahl, wenn 70% der Bundesbürger dafür sind, dass Köhler gewählt wird?

Keine freundliche Frage. Aber ihre Antwort schockiert in ihrem Verständnis für Demokratie und für das Amt des Bundespräsidenten:

Gut, denn die Wahl geschieht durch die Bundesversammlung

Nichts muß ich dem hinzuzufügen, was Holger Koepke in seinem Reizzentrum sagt. Gut, daß sie es nicht geworden ist. Herzlichen Glückwunsch, Herr Köhler! Gegen solch eine Einstellung wären auch durchschnittlichere Kandidaten als Herr Köhler nachgerade als Lichtgestalten erschienen.

Zu dem Geschehen rund um die unselige Kinderpornographie/Zemsur-Debatte habe ich meine Meinung, so denke ich, bereits deutlich kundgetan (16.2., 26.3., 27.3., 28.3., 29.3., 1.4., 10.4., 11.4., 18.4., 19.4., 28.4., 16.5., 9.5.18.5.). Eigentlich reicht es doch irgendwann. Aber es wird von der „Gegenseite“ immer und immer wieder nachgelegt. Nun haben innerhalb von drei Tagen 50.000 Leute erklärt, daß die Regierungspläne nicht ihr Vertrauen finden. Jeder einzelne dieser 50.000 hat im Internet eine Erklärung abgegeben: Die Bundes­tags­ab­ge­ord­ne­ten sollen bitte nicht für eine Änderung des Tele­medien­ge­setzes stimmen. In­zwi­schen hat sich einiges ereignet: Die Anzahl der Unter­zeichner ist auf über 90.000 gestiegen. Das Quorum ist längst über­er­füllt, aber jede Stimme zählt. Immer noch. Wenn Sie also noch nicht unter­zeichnet haben sollten, können Sie das hier noch tun. Oder über­zeugen Sie noch jemanden, der noch nicht unter­schrieben hat.

Die gute Nachricht: Am 27.5. wird im Bundestag das Thema wieder erörtert. Es gibt sie noch, die freien Ab­ge­ord­ne­ten, die sich nicht einfach so als Ab­stimm­auto­maten fühlen wollen. Auch wenn so mancher Blogger sich in die Fundamentalopposition zurückgezogen hat – unsere parlamentarische Demokratie funktioniert vielleicht jetzt im Moment besonders gut. Gerade weil es Gegenwind gibt, ist die Rede in Regierungskreisen vom „Durchziehen“. Und ein paar Sätze später bereits vom „Gegner vor sich hertreiben“. So reden Leute, die in die Enge getrieben werden.

Die schlechte Nachricht: Zuerst verunglimpft der Wirtschaftsminister zu Guttenberg alle Unterzeichner der Petition, und dann wird eine Gegenpetition gestartet. Von unser aller Steuergeld übrigens, mindestens indirekt. Glauben Sie nicht? Dann schauen Sie doch mal das hier an. Danke erneut an das Reizzentrum, da habe ich das her. Geschmacklos und erschütternd.

Gleichzeitig der Schlag ins Gesicht der zigtausend Petitionsunterzeichner. In der doch recht regierungsnahen FAZ steht es beinahe kritisch, an anderen Stellen deutlicher: Die Petition, so das Familienministerium, wird keine Auswirkungen haben. Hier irren aber die Minister von der Leyen  und zu Guttenberg. Es wird Auswirkungen haben. Es gibt heute schon Abgeordnete, auch innerhalb der Regierungsparteien, die von der Petition beeindruckt sind. Die Zeit online sieht die Vorgänge in einem lesenswerten Kommentar kritisch („Wie man eine Generation verliert“). Aber im Kommentar selbst steht es doch:

Die SPD-Politikerin Monika Griefahn mahnte, man möge die Interessen doch wenigstens hören und sie nicht alle sofort abtun. „Wir müssen die genannten Kritikpunkte ernst nehmen und sorgfältig überprüfen“, sagte Griefahn, viele Menschen sähen immerhin das Gesetzesvorhaben mit Sorge. So zu tun, als wollten Kritiker wirksamen Kinderschutz verhindern, sei „wirklich unanständig“.

Das genau ist doch funktionierende Demokratie, auch wenn sich da an der Staatsspitze ein paar Menschen tummeln, deren Borniertheit einem den Atem rauben möchte, wo das audiator et altera pars eine echte Qual wird, denn so differenziert, wie sich viele noch bemühen, sich solchen Themen zu nähern, wird „dort oben“ wohl nicht gedacht.

Oben? Mancher Abgeordnete führt sich auf, daß man meinen möchte, er sei auf Lebens­zeit gewählt. Ist es Geltungs­bedürfnis? Oder über­steigerte Macht­phantasie? Oder einfach nur schlechtes Benehmen? Ich sage nur „GAGA GOGO TRALLAFITTI„. Der Ab­ge­ord­nete Wiefels­pütz rastet an­ge­sichts einer zu­ge­ge­be­ner­maßen etwas ober­lehrer­haften Frage völlig aus, in aller Internet-Öffent­lich­keit. Ab­ge­ordne­ten­watch ist ein sehr inter­es­santes Forum. Man lernt hier den einen oder anderen Ab­ge­ordne­ten besser kennen, als es bei Ascher­mitt­wochs­reden oder Groß­wahl­kampf­ver­an­stal­tungen oder in un­er­träg­li­chen Spiegel­fechtereien bei Chri­stiansen, Will und anderen Fern­seh­for­maten mög­lich ist. Die Wiefels­pütz’schen öffent­lich und online aus­ge­tra­ge­nen Schlag­ab­tausch­es­ka­pa­den (oder kurz: flame wars, aber ich versuche, ohne meinen Sozio­lekt aus­zu­kommen :-)) sind jeden­falls ein Lehr­stück, in­wie­fern das Inter­net für Trans­parenz sorgen kann: Solchen Menschen will ich nicht den Auftrag geben, für mich zu sprechen.

Erfrischend hingegen die Antworten des Abgeordneten Jörg Tauss, der nun keine Rücksicht mehr auf Parteilinien nehmen muß. Nicht, daß er das früher immer getan hätte… Die Kommunikation der Wähler mit den Abgeordneten ändert sich also jetzt, keine Frage. Was Chancen wie Risiken birgt – online ist Rufmord noch einfacher als im wirklichen Leben. Und der Ton bei Diskussionen im Netz ist nun einmal rauher, eine Tatsache, die nicht jeder akzeptieren wird, der sich in diesem Medium der Allgemeinheit stellt. Da kann man natürlich etwas machen, zum Beispiel werden beleidigende, polemisierende oder idiotische Fragen auf abgeordnetenwatch.de einfach von den Moderatoren gelöscht. Selbstzensur, wenn man so will, aber notwendig.

Natürlich ist das Netz ein Territorium, in dem sich nicht jeder mit derselben Leichtigkeit bewegt. Es gibt eine überdurchschnittlich große Gruppe Netzignoranten im Bundestag – das sind erfahrungsgemäß dieselben Leute, die das Internet als Hort des Bösen sehen. Und damit dieses Medium gnadenlos unterschätzen.

Noch ein Thema? Klar, eines meiner Lieblingsthemen: Statistikmißbrauch. Da gibt die „Deutsche Kinderhilfe e.V.“ eine Umfrage bei Infratest Dimap in Auftrag. Frage: 

„Die Bundesregierung plant ein Gesetz zur Sperrung von kinderpornographischen Seiten im Internet. Kritiker befürchten eine Zensur und bezweifeln die Wirksamkeit solcher Sperren. Befürworter betonen dagegen, dass solche Sperren eine sinnvolle und wirksame Maßnahme gegen die Verbreitung solcher Bilder sind. Wie sehen Sie das: Sind Sie für ein Gesetz zur Sperrung kinderpornographischer Seiten im Internet oder dagegen?“

Ergebnis: 90 Prozent Befürworter, gleich als dicke Schlagzeile lanciert, 100.000 online-Petenten können also doch irren. Aber was ist das? Da gibt es den unbequemen Christian Bahls und seinen Missbrauchsopferverein MOGIS. Und der gab auch eine Umfrage in Auftrag, beim selben Institut:

„Der Zugang zu Internetseiten mit Kinderpornographie sollte durch eine Sperre erschwert werden, das reicht aus, auch wenn die Seiten selbst dann noch vorhanden und für jedermann erreichbar sind.“

Wie zu erwarten mit dem genau gegenteiligen Ergebnis, 92% sind nun gegen die Internetsperren. Alles sehr schön dargestellt in der Zeit.

Wasser auf meine Mühlen – traue nur Umfragen, bei denen Du die Fragen selbst formuliert hast. Und selbst dann ist es eine hohe Kunst, wirklich Erkenntnisse zu gewinnen. Immer vorausgesetzt, man interessiert sich überhaupt für Erkenntnisse und versucht nicht nur, Wahlkampfmaterial zusammenzutragen. Lustig zu lesen ist übrigens das Interview mit Richard Hilmer, dem Geschäftsführer von Infratest dimap, ebenfalls in der Zeit. Interessant, wie hier jemand seinen Berufsstand verteidigt. Vermutlich hat ihn das einen Liter Schweiß gekostet.

Was ist also zu tun? Ist unsere Demokratie nun in Gefahr oder nicht? Wenn man liest, was 2006 in der Bild am Sonntag zu lesen war, wird es einem angst und bange (gefunden beim ORF, aber man kann davon ausgehen, daß jene 16% UFO-Gläubige auch bei uns gelten):

Laut der deutschen „Bild am Sonntag“ glauben nur 10 Prozent der Deutschen die Wahlversprechen von Politikern. Das hat das FORSA-Institut erhoben. Man kann wohl davon ausgehen, dass die Zahl für Österreich ähnlich ist. Es dürften die gleichen Leute sein, die auch an UFOs glauben – nach einer IMAS-Umfrage vom März tun das in Österreich 16 Prozent. (Interessant übrigens, dass es mindestens sechs Prozent – also gut 300.000 erwachsene Österreicher – gibt, die zwar nicht an Wahlversprechen, aber sehr wohl an UFOs glauben …)

Anlass für die BamS-Umfrage war übrigens ein historischer Satz des deutschen Vizekanzlers Franz Müntefering (SPD) letzte Woche, der meinte, es sei von den Wählern „unfair, die Regierenden an ihren Wahlversprechen zu messen.“

Es glauben also mehr Leute an UFOs als den Politikern… aber wer weiß, wie bei der Umfrage

wieder mal die Fragen formuliert waren.

 

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