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Die Freiheit der Meinung setzt voraus, daß man eine hat (Heinrich Heine)

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Dienstag 15. Februar 2011

Ποῖόν σε ἔπος φύγεν ἕρκος ὀδόντων (Welches Wort ist dem Gehege Deiner Zähne entflohen)
Homer

 

Wort des Jahres: Digitaler Radiergummi

App war also das Wort des Jahres in den Vereinigten Staaten. Apps gab es zwar schon früher, aber inzwischen ist der Spruch „There’s an App for that“ dort ein geflügeltes Wort. Wenn es einen Himmel für Marketingspezialisten gibt, so hat der Erfinder des Wortes seine Apotheose schon hinter sich. „Apple“ und „Application“ in einem wirklich kurzen Wort zusammenzufassen und dann, wenige Marketingmilliarden später, ein Wort zu haben, das mehr Leute kennen als es Leute gibt, die es nicht kennen.

„App“ kam bei uns nicht einmal in die engere Wahl. Ein weiterer Kandidat hätte „Facebook“ sein können. Traumaktienkurse wie zu den besten Börsenblasenzeiten, und gleichzeitig kommt ein Film heraus über den Firmengründer. Hollywood! Mark Zuckerberg ist 26 Jahre alt und sein Leben wird verfilmt. Howard Hughes war 29 Jahre tot, als sein Leben verfilmt wurde. Allerdings bekam er Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle und Zuckerberg mußte sich mit Jesse Eisenberg begnügen. Wort des Jahres also? Nichts zu machen. Bei uns wurde Facebook hauptsächlich von Ministerin Aigner erwähnt, die sich mit großem Medientamtam in Facebook gelöscht hat. Eine Art digitale Selbstverbrennung, um die Konsumenten aufzurütteln. Es wäre ein wenig glaubwürdiger gewesen, wenn sie den Account nicht extra für diesen Zweck angelegt hätte.

Bei uns gibt es chancenreichere Wörter. Sie müssen etwas Negatives ausdrücken und unser allgemeines Unbehagen über die Entwicklung der Welt thematisieren. Wie wäre es mit dem „digitalen Radiergummi“? Ein theoretisierender Unsinn, mit großer Geste propagiert, wieder von Ministerin Aigner. Was daraus wurde? Eine gigantische Werbekampagne auf Kosten des Steuerzahlers für ein zweifelhaftes Produkt, das von einer privaten Firma vermarket wird. Öffentliche Mittel sollten in offene Software investiert werden – daß man darauf im 21. Jahrhundert noch hinweisen muß! Zumal das Produkt niemals das leisten kann, für was es gefördert wurde. Gibt man einem Dokument ein Verfallsdatum mit, zu dem es sich quasi in digitalen Rauch auflösen soll, muß das auch für alle Kopien gelten. Da jeder Art von „Sebstvernichtungscode“ einfach elimierbar wäre, funktionieren die Dokumente nur in Verbindung mit einem Schlüsselserver, also online. Das ist auch deshalb notwendig, damit jeder auch nachträglich noch das Verfallsdatum verändern kann.

Das ist in mehrerlei Hinsicht Humbug. Gerade hat man sich durchgerungen, ein elektronisches Dokument als Dokument zu sehen, mit Archivierungspflichten und mit Beweiskraft. Und nun verschwindet ein Dokument doch auf einmal, nur weil sein Schöpfer es so will? Oder weil der Keyserver gestorben ist? Wie verträgt sich das denn mit den GDPdU, den „Grundsätzen zum Datenzugriff und zur Prüfbarkeit digitaler Unterlagen“? Diesem bürokratischen Monster, nach dem Dokumente für die Ewigkeit (i.e. typischerweise 10 Jahre) nicht mehr ausgedruckt werden dürfen, sondern elektronisch lesbar vorgehalten werden müssen, und zwar nachweislich unverändert.

Gut, derzeit wird der digitale Radiergummi auf Bilder reduziert. Vielleicht auch noch auf Töne und Videos, nicht jedoch auf das geschriebene Wort. Nicht ganz einzusehen, denn auch das Wort, das bei Homer dem Gehege der Zähne entkommt, kann einen recht reuen und man wünscht sich, es wenigstens unsichtbar zu machen, wenn man es schon nicht ungesagt machen kann.

Aber sei’s drum – wenigstens kann man Bilder löschen. Wirklich? Unsinn. Man kann Bilder nur löschen, wenn sie nicht vorher von jemand anderem gesichert wurden. Aber gerade das ist doch im Internet eine sehr typische Handlung. Auf dem Mac tippt man ⇧-⌘-4, ein Mausklick, und fertig ist das Bildschirmphoto. Dito unter Windows oder Linux, nur mit anderen Tasten. Das macht man doch jetzt schon, um zu verhindern, daß lustige oder peinliche oder spektakuläre Netzseiten verschwinden, bevor man sie all seinen Freunden zeigen konnte. Und das wäre bei kompromittierenden Photos anders?

Dennoch: 25 Punkte wegen des Nervfaktors – immerhin wurde dauernd über diesen Unsinn berichtet. Dabei wäre es einfach gewesen, man erkennt die Totgeburt doch sofort am Wort. Ein Radiergummi ist wohl das analoge Löschmittel par excellence. Es zeichnet den Radiergummi doch gerade aus, daß er nicht alles verschwinden läßt, sondern je nach verwendeten Medien Geschriebenes und Gezeichnetes nur mehr oder weniger unkenntlich macht, also eher verwischt, wobei Glanzpapier mit leichten Bleistiftstrich eher radierbar ist als Löschpapier mit Tinte.

Und besser wird ein digitaler Gummi das auch nie können.

 

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