Erbärmlich, unsäglich, blindwütig
Selten habe ich so einen unsachlichen und polemischen Blödsinn gelesen wie im Stern, aktuelle Ausgabe 34/2009. Kein Grund, den Stern zu boykottieren, wobei ihn zu kaufen allerdings oft eine gewisse Meisterschaft in Toleranz und Leidensfähigkeit voraussetzt.
Sei’s drum, da steht es jedenfalls: „Die Freiheit der Mörder“, wieder einmal ein „Zwischenruf“ jenes Hans-Ulrich Jörges, einem Mann, der es regelmäßig schafft, mich fassungslos zu machen. Vielleicht lächelt er nun fein und sagt, Mission erfüllt, ich will provozieren, ich will aufrütteln, aber das wäre ein Mißverständnis. Nicht inhaltlich ist die eigentliche Provokation zu sehen, eher in der völligen Ingnoranz der Wirklichkeit, in der gebetsmühlenartig wiederholten Aneinanderreihung längst widerlegter Argumente, gepaart mit unverhohlener Aggressivität.
Aufruf zur Intoleranz
Beweis gefällig? Jörges sagt, das Internet sei ein rechtsfreier Raum. Wo war der Mann die letzten Monate? Hat er keine Angst davor, ausgelacht zu werden? Und, wie zu erwarten ist der restliche Artikel von ähnlich ärmlicher Qualität. Schauen wir genauer hin. Die zweite Überschrift ist allein schon eine Entgleisung: „Ein Aufruf zur Intoleranz“. Soll das witzig gemeint sein? Gleich danach ein Geständnis: Jörges surft das Internet ab nach eindeutig verbotenem Material: Hakenkreuze, SS-Runen, das Horst-Wessellied. Das alles hat er sich angeschaut – wohl wissend, daß es sich um illegales Material handelt. Sein Vorgehen ist durchaus analog zu dem von Jörg Tauss, der zum Thema Kinderpornographie recherchiert hat. Was Jörges abgeschmackterweise dem Abgeordneten Tauss vorzuwerfen scheint, bei sich selbst aber als normal ansieht.
Der Unsinn mit dem rechtsfreien Raum
Vermutlich dünkt er sich etwas besseres als ein Politiker, schließlich rechnet er sich ja zu den meinungsmachenden Zeitungsmachern. Zu den recherchierenden Journalisten kann er sich wohl kaum selbst zählen, ohne rot zu werden. Jörges hat sich unzweifelhaft strafbares Material beschafft, gesichtet und beherbergt es nach wie vor auf seinem Rechner in zahlreichen Cache-Dateien. Hier bin ich durchaus der Meinung, das müsse erlaubt sein, nicht nur Politikern und Journalisten, jeder der in einer Demokratie seine Stimme abgeben, mitregieren will, soll alles sehen und lesen dürfen. Das letzte Jahrhundert hätte vielleicht weniger Leid über die Menschen gebracht, hätten vor 1933 mehr Leute „Mein Kampf“ gelesen. Aber es stört mich, wenn die Gesetze so strotzend vor Selbstgerechtigkeit nur für die anderen gelten sollen, und das in so einem Law-And-Order-Artikel.
Doch zurück zu dem Artikel:
Es wird verherrlicht und verunglimpft, gehetzt und gelogen, agitiert und rekrutiert – völlig ungestört im Internet. Was in der realen Welt bestraft wird, bleibt in der digitalen Welt ungeahndet. Das Internet ist ein rechtsfreier Raum.
Interessant: Jörges bezieht sich nicht auf sich selbst, nein, über „das Internet“ schreibt er. Völlig ungestört? Nun, mit der gleichen kruden Logik könnte man sagen, daß unsere Straßen längst auch rechtsfreier Raum sind. Da wird gedrängelt und genötigt, beleidigt und bedroht. Und die Strafen? Ich meine die Strafen für Fehlverhalten, die nicht zur Finanzierung der Kommunen herangezogen werden? Nun, ich mußte einmal ein Auto zur Fahndung ausschreiben lassen – es wurde nie gefunden. Aber acht Strafzettel wegen Falschparkens bekam ich für dieses „unauffindbare“ Auto dann doch noch in den folgenden Monaten. Anhand der Strafzettel habe ich dann das Auto selbst gefunden.
Schüler haben ein böses Video über einen Lehrer ins Internet gestellt. Die Verfasser konnten nicht gefunden werden, gleichwohl kann man das Video nicht mehr sehen. Aha, das Internet ist ein rechtsfreier Raum. Ist es nicht vielmehr die reale Welt? Ist die Schule ein rechtsfreier Raum, wenn die Urheber eines Schülerscherzes nicht ausfindig gemacht werden?
Natürlich will niemand Schülerscherze mit Völkermord vergleichen. Nehmen wir doch einfach Mord. Wie steht es denn um die weltweite Aufklärungsrate von Mord, im wirklichen Leben also? Bleiben die meisten Morde ungesühnt? Ja, aber ist die Welt nun ein rechtsfreier Raum? Blühender Unsinn. Genauso unsinnig wie bereits die Überschrift, Freiheit für die Mörder. Es gibt einen Unterschied zwischen Mord und brauner Hetzpropaganda, und wer den nicht mehr sieht, braucht eine Auszeit.
Crescendo
Und der Skandal ist streng tabuisiert. Schon der Plan der Grossen Koalition, Kinderporno-Seiten zu sperren, der erste Eingriff in die grosse Freiheit, hat in der Internet-Gemeinde Entrüstung ausgelöst, Familienministerin Ursula von der Leyen die Schmähung Zensursula eingetragen und der gegen Netz-Zensur kämpfenden Piratenpartei Zulauf verschafft.
Wer tabuisiert? Es wurde nicht darum gestritten, ob illegale Inhalte aus dem Netz entfernt werden dürfen oder nicht. Noch ist das hier ein Rechtsstaat. Was aber ist illegal? Entscheidet das die Polizei? Oder die Gerichte? Und ist das lächerliche Verbiegen von Nameservereinträgen eine Sperrung? Oder nur eine Alibiaktion, ungeeignet, schädlich, dumm?
Und dann das Geschwätz von der „Internet-Gemeinde“. Gibt es auch die „Telephonnutzergemeinde“? Die „Lufthansafliegergemeinde“? Alles Quatsch. Und die „Ahnungslosen-Gemeinde“ – mit Herrn Jörges als ihrem Prophet – gibt es die wenigstens? Vermutlich auch nicht, aber biblisch wird es durchaus im nächsten Absatz, wo Jörges über Jörg Tauss geifert (und er vergreift sich dabei an Tauss und an Jesus Christus in nur fünf Worten):
Die Piraten umarmen den Unberührbaren
um dann irgendwie wieder die Kurve zu kriegen, es ging ja um Nazis. Hier kommt erneut die Stunde des Propheten:
Sperren wären weitaus wirksamer als ein NPD-Verbot
Ich will gar nicht wissen, wie er das begründet. Es spielt auch keine Rolle, denn ein NPD-Verbot wäre ja schon wieder Alibi-Politik, blinder Aktionismus, ein Ablenken von tatsächlichen Dingen. Jörges hat es doch eigentlich begriffen, er selbst erwähnt den §86a StGB, den §130 StGB, er selbst bemerkt, daß jemand aus dem Ausland höhnt, diese BRD-Paragraphen seien ihm egal. Fein beobachtet, in den USA darf man Nazi sein, sich von Kopf bis Fuß mit Hakenkreuzen behängen und indiskutable Behauptungen aufstellen, ohne Angst vor Strafe haben zu müssen. Hier ist es verboten, dort nicht.
Kommt aber der der Verantwortliche für den Server mal nach Deutschland, zum Beispiel, um von einem Flugzeug in ein anderes zu steigen, und richtet sich der Server vielleicht sogar explizit an deutsche Leser, so riskiert der Betreiber eine Verhaftung und durchaus auch eine Verurteilung in Deutschland. Im Kalten Krieg war das ein völlig normaler Vorgang, niemand von Radio Free Europe oder Radio Liberty wäre auf die dumme Idee gekommen, in den Ostblock zu reisen, waren doch diese Sender vor allem auf Ziele hinter dem Eisernen Vorhang gerichtet.
Aha! Das Radio, ein rechtsfreier Raum? Aus der Sicht der Russen damals vielleicht wirklich, und die Analogie hält: Illegal wird so mancher Webserver erst durch seine Leser, nicht per se durch seine Existenz, auch wenn das Herrn Jörges vielleicht zu spitzfindig ist. Das Internet läßt sich nicht vollständig kontrollieren. Das stört die Chinesen, und es stört Herrn Jörges. Ja mei.
Aber ist das schlimm? Schlimm wäre es, könnte unsere Demokratie tatsächlich von ein paar braunen Spinnern gefährdet werden.
Einen intoleranten und unbelehrbaren Jörges muß sie ja auch aushalten.
Freitag 21. August 2009 um 00:30
Hallo, vielen Dank, erfrischend wie dieses Geschreibsel von Herrn Jörges auseinandergenommen wird. Diese Lichtblicke braucht man dringend bei dieser Verwahrlosung des Journalismus – ander kann man es nicht mehr nennen. Vielen Dank aus Berlin
Freitag 21. August 2009 um 06:03
Entspiegelt…
…
Dienstag 25. August 2009 um 00:00
Nun welches Recht habe ich denn im Internet? Wie ziehe ich Personen in mein Vertrauen?
Ich kann einfach offline gehen, bleibt übler Geruch wenn dieser einmal entstanden ist.
Die Frage die mir wichtiger erscheint ist, wie virtuell ist die Wirklichkeit in welcher wir die Rechtsstaatlichkeit begreifen. Was passiert im Internet? Wie real ist die Virtualität?
Die Freiwillige Selbstkontrolle anonymer Arroganz verläuft sich in das Namenlos des User.
Nur die nennbare Verbindlichkeit in gesellschaftliche Struckturen liefert das Vertrauen in das Individuum. Wird dies aufgehoben zerfallen ethische Normen. Die Kultivierung eines Barbarentums
kann nicht im Sinn der Anwender liegen. Ist ein rechtsfreier Raum tätsächlich nicht vorstellbar.
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