Das Wesen der Demokratie
Ein verregneter Sonntag und das immer ernster werdende Stapeln von Kisten kurz vor dem bevorstehenden Umzug ist eine hervorragende Gelegenheit, das Thema im Kopf fortzusetzen, das mich bereits seit Wochen besonders beschäftigt: Die Politikverdrossenheit. Woher kommt sie? Läuft was falsch mit der Demokratie? Ist die Demokratie vielleicht gar in Gefahr?
Die Generation derer, die schon so nach dem Krieg geboren wurden, dass ihre Eltern den Krieg nicht mehr oder nur als Kinder mitgemacht haben, ist mit einem besonderen Demokratieverständnis großgeworden. Die Demokratie ist das beste, was eine Gesellschaft haben kann, und daran ändern all die kleinen Unbequemlichkeiten nichts, die die Demokratie so mit sich bringt. Wer nicht wählen geht, hat die Demokratie nicht verdient und benötigt Nachhilfe in Staatsbürgerkunde und wer gegen Meinungsfreiheit ist, gehört niedergebrüllt. Die Pointe an den Start: Das stimmt ja alles. Und auch wieder nicht. Wer nun ein Pamphlet gegen die Demokratie erwartet, kann aufhören zu lesen: Hier schreibt niemand mit dem Hintern in Nesseln und den Füßen im Fettnäpfchen. Und keiner versucht, unter dem Brett vor seinem Kopf über die Ränder allfälliger Teller hinauszulinsen.
Was genau ist eigentlich Demokratie?
Demokratie ist zunächst ein Experiment – und dazu noch ein immer wieder gescheitertes. Unsere Form der Demokratie existiert gerade mal ein halbes Jahrhundert, und in ganz Deutschland gibt es sie noch nicht einmal 20 Jahre. Und das erstaunlichste ist: Eher schafft man es, mit dem Dalai Lama in Jean-Claude van Damme-Filme zu gehen, als einen Deutschen davon zu überzeugen, dass es bessere Gesellschaftsformen als die Demokratie gebe – vorausgesetzt, man versucht es. Gottseidank, möchte man rufen, und hat ja auch recht, aber dann fragt man ebendenselben Deutschen, was Demokratie für ihn bedeute und er antwortet, wenn überhaupt,
„dass halt das Volk selber bestimmen kann und so“
Die meisten wissen nicht wirklich, was Demokratie ist, und das liegt daran, dass der Begriff der Demokratie so wenig geschützt ist wie der der Freiheit oder der des Unternehmensberaters. Was macht Demokratieen aus?
Ein Mann eine Stimme?
Sicher reicht das nicht. Auch wenn es bis weit ins zwanzigste Jahrhundert einige Staaten gab, in denen Frauen nicht wählen durften, heute würde man einen Staat ohne Frauenwahlrecht nicht als Demokratie bezeichnen. Und umgekehrt? Darf jeder Halunke wählen? Jeder, der am Ort des Geschehens wohnt? Oder dort geboren wurde? Wer spricht für die Kinder? Aber dann auch: Wie kommen Entscheidungen zusammen, darf jeder überall mitreden oder nur alle paar Jahre ein Kreuzerl machen? Dürfen wir bei der Verwendung unserer Steuergelder mitreden oder nur festlegen, wie hoch die Häuser in der Stadt (im Jahr 2004) werden dürfen? Wie sieht es mit den noch fundamentaleren Fragen aus: Wer schließt Bündnisse? Wer erklärt Kriege oder schickt die Landeskinder zum Kämpfen? Wer legt fest, welche Rechte und Pflichten Bürger haben?
Meinungsfreiheit für alle?
Das Bauchgefühl kann sich eine Demokratie ohne Meinungsfreiheit nicht vorstellen. Das Recht, frei heraus die Meinung zu sagen, ist für uns untrennbar mit der Demokratie verbunden. Und richtig, für die bekannteste Demokratie der westlichen Hemisphäre, die amerikanische, ist das Recht, eine freie Meinung nicht nur zu haben, sondern sie auch zu äußern, das oberste Gut. So wichtig, dass Amerikaner Demokratien nicht an den Wahlregeln erkennen, sondern an der Meinungsfreiheit. So kommen sie auch nicht auf die Idee anzuerkennen, daß sie die Demokratie erst haben, seit die Neger mitwählen dürfen. Und so lang ist das nicht her (Der Voting Rights Act war 1965, nach Christus).
In unserem Land ist die Meinungsfreiheit geringer geschätzt. Niemand hat bei uns das Recht, in besonderen nicht gerade einfachen Fragen der jüngeren deutschen Geschichte jede beliebige Meinung zu vertreten. Genauer gesagt ist es sogar ein Straftatbestand, bestimmte Sachen zu sagen. Nicht verboten ist es, einfach falsche Behauptungen aufzustellen, so wie 1 + 1 = 3 (0, 1 oder 2 könnte man als Mathematiker ja begründen, aber 3 ist eine Herausforderung), es kommt auf das Thema an.
Freiheit, Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Mitbestimmung und Wohlstand?
Freiheit ist ja noch schwieriger zu fassen als die bloße Meinungsfreiheit. Und gänzlich frei kann man nie sein, denn die eigene Freiheit endet bekanntlich da, wo die des anderen beginnt. Ist eine Gesellschaft frei, die ihren Bürgern das Rauchen verbietet oder stark einschränkt (Deutschland, USA)? Das Trinken (USA)? Das Haschischrauchen erlaubt und das Tabakrauchen verbietet (Niederlande)? Und ebenso klar ist auch, dass man Freiheiten nicht nur gewähren, sondern auch schützen kann, und auch das hat mit den Aufgaben einer Gesellschaft zu tun. Wie frei fühlt sich ein Nichtraucher unter Rauchern? Und das ist vielleicht noch ein eher harmloses Beispiel eines Zielkonflikts.
In so einem Fall bedarf es also einer gerechten Lösung, und die ideale Gesellschaft sorgt dafür, dass nicht von egoistischen Cliquen bestimmt wird, wessen Freiheit als erstes leiden muss. Gerechtigkeit für alle, der einzelne hat sich dem Gemeinwohl unterzuordnen. Dafür bedarf es allerdings keiner Demokratie und bei genauer Betrachtung haben wir da auch keine. Das erkennt man daran, dass jeweils die Betroffenen nicht gehört werden, es wird bestimmt. Ob das die Errichtung von Freischankflächen in Wohngebieten ist, das Aufstellen von Parkverboten, die Finanzierung und Förderung einzelner Projekte: Selbst auf so lokaler Ebene wird anonym entschieden, im Stadtrat, der Bürger kann sich höchstens wehren, und auch das nur in seltenen Fällen.
Wie ist es dann erst, wenn es um abstraktere Rechtsfragen geht: Wann schaden wir einem Teil der Bevölkerung, um vielen zu nutzen? Solange es Minderheiten trifft, ist die Versuchung gross. Minderheiten lassen sich erzeugen – zuerst definiert man sie, dann besteuert man sie. Erben. Sogenannte „Reiche“. Pendler. Privat Krankenversicherte. Junge. Ausländer. Das funktioniert prima, vor allem, wenn die solcherart Ausgegrenzten keine Möglichkeit haben, sich zu wehren.
Die Mitbestimmung muss man hier nicht einmal gesondert betrachten – auch hier wieder werden Rechte gegeneinander aufgewogen, Freiheiten widersprechen sich. Aber da war noch etwas. Wohlstand! Eine freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung in einem bettelarmen Land? Unvorstellbar. Vielleicht ist da der Grund, wieso wir alle uns die ideale Gesellschaft nicht mehr anders vorstellen können als demokratisch. Und doch: Welches Land ist das demokratischste: Athen zur Zeit des Perikles? Rom vor Christus? Amerika nach dem 4. Juli 1777? Oder heute? Die Schweiz? Oder wir in Deutschland?
Fortsetzung folgt
Sonntag 27. Juli 2008 um 10:48
„Demokratie“ war bekanntlich früher einmal ein Schimpfwort, weil es mit „Herrschaft des Mobs“ in Verbindung gebracht wurde. Die US-Gründungsväter haben sich deshalhb als „Republikaner“ verstanden, und sie lehnten politische Parteien ab.
Wie weitsichtig das war, zeigt sich heute in Deutschland, wo sich die so genannten „Volksparteien“ im freien Fall befinden und die Mehrheit der Bürger längst der Partei der Nichtwähler beigetreten ist.
Die Parteiendomokratie in Deutschland ist deshalb als gescheitert zu betrachten. Am besten wäre es, wenn wir Artikel 21 des Grundgesetzes ersatzlos streichen würden. Ich habe noch ein paar andere Ideen dazu unter http://www.cole.de gebloggt. Vielleicht hat jemand eine Meinung dazu?