Kollektive Erregung
In einem wahrhaft demokratischen Land sind alle Entscheidungen transparent. Alles darf diskutiert werden, in Frage gestellt werden, abgelehnt werden. Was man argumentativ nicht bekämpfen will, das muss verächtlich gemacht werden. Wenn man etwas nicht versteht, ist es nicht das Problem des Verständnislosen, sondern es liegt daran, daß der politischen Gegner „Kommunikationsdefizite“ hat. Aufregen ist einfacher als Nachdenken, aber das liegt bekanntlich in unserer Natur .
Um diesen Mechanismen zu entgehen, lohnt sich das patentwürdige System des Luft-Anhaltens-Und-Bis-Drei-Zählens, bevor man antwortet. Bis drei reicht oft nicht, also murmelt man ein altes Matra vor sich hin:
Audiatur et altera pars.
Tut man das nicht, kommt es zum Symptom der „kollektiven Erregung“. Aus einer kleinen Meldung wird ein Skandal. Daraus ein SKANDAL. Und das führt dann zur Verunglimpfung eines Teils der Bevölkerung, zu Haß, Paranoia, im harmlosesten Fall zu Beleidigungen. Beispiel gefällig? Der Kressreport zitiert aus der Süddeutschen. Ich würde gerne auch aus der Süddeutschen zitieren, aber die hat diesen Artikel nicht online:
Bayern: IPTV-Betreiber brauchen Lizenz
Betreiber von Internet-Fernsehen benötigen in Bayern von 1. August an eine Sendelizenz, wenn mehr als 500 Benutzer zeitgleich auf ihr Live-Stream-Angebot zugreifen können. Diese Änderung ihrer Fernsehsatzung hat die Bayerische Landesanstalt für neue Medien (BLM) laut „Süddeutsche Zeitung“ (Montagsausgabe) beschlossen. Die Lizenz werde ohne weitere Voraussetzungen erteilt, wenn es keine programminhaltlichen Bedenken gebe. Es sei denn, die Zahl der Zugriffsmöglichkeiten liege bei mehr als 10 000, dann sei ein Organisationsverfahren wie bei einem normalen Kabelprogramm notwendig. Die Lizenzgebühr beträgt bei lokalen und regionalen Angeboten einmalig zwischen 500 und 2500 Euro, bei bundesweiten zwischen 1000 und 10 000 Euro. Die Einnahmen durch lokales und regionales Internet-TV fließen an die BLM, bei bundesweiten Angeboten gehen 75% an die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK). Abrufangebote bleiben lizenzfrei.
So weit so gut. Der wackere Anwalt Udo Vetter, dessen Blog ich gerne lese, und den generell zu verurteilen hier nicht mein Anliegen ist, macht daraus:
Bayern lizenziert das Internet
Wer aus Bayern künftig live für mehr als 500 Nutzer im Netz senden will, braucht eine Lizenz der Bayerischen Landesanstalt für Neue Medien. Die Lizenz soll bei bundesweit relevantem Content, also vermutlich ab dem ersten Beitrag in hochdeutscher Sprache, 1.000 bis 10.000 Euro kosten, berichtet das Medienmagazin DWDL.de.
(…)
Immerhin: Abrufinhalte, also Konserven, sollen weiter lizenzfrei bleiben.Gibt es bei uns nicht dieses komische Recht, “seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten”? Hoffentlich klagt ganz schnell jemand gegen diese größenwahnsinnigen Regulierer, damit so was nicht Schule macht. Sonst schalten wir besser gleich um. Nach Peking.
Starker Tobak. Die BLM will eine Lizensierung für Sendungen, die nicht über Kabel oder Antenne, sondern über Internet-Pakete übertragen werden. In nicht so abwegiger Selbsteinschätzung sprechen sie ausdrücklich nur von Live-Übertragungen und meinen auch genau solche, Konserven sind ausgenommen („Abrufangebote bleiben lizenzfrei“). Herr Vetter sieht das Grundgesetz, Artikel 5 gefährdet. Zu diesem Zeitpunkt hat er auch schon vergessen, dass es nur um Livestreaming und die BLM geht, er spricht bereits verallgemeinernd von „Bayern“ und „dem Internet“. Und so vermutet er folgerichtig auch gleich chinesische Verhältnisse bei uns. Wirklich? Das eine ist ein System, das seit ewigen Zeiten von ein und derselben Clique regiert wird, die Meinungsabweichungen aufs schärfste ahndet, und das andere bereitet sich gerade auf die Austragung der olympischen Sommerspiele vor. Stop. Das war ein Scherz – was ich auch von Herrn Vetter hoffe, angesichts der klugen Artikel, die ich von ihm gelesen habe.
Und fast sehne ich mich nach dem ruhigen Ton des Herrn Vetter, wenn ich lese, wie ein Herr Thomas Knüwer in einem Handelsblatt-Blog mit dem zweifelhaften Namen „Indiskretion Ehrensache“ vom Leder zieht:
Die Bayerische Landesanstalt für Neue Medien ist eine lustige Veranstaltung
Dass Bayern ja eigentlich keine Demokratie sei, ist ein verbrauchter Witz. Schön aber, dass die Bayerische Landesanstalt für Neue Medien – man beachte das „Neue“ – sich zum Ziel gesetzt hat, diesen Scherz am Leben zu erhalten. Mit einem Schub Medienstalinismus, der von einer bemerkenswerten Unkenntnis in Sachen Internet zeugt.
Medienstalinismus? Ich sehe Herrn Knüwer schon vor meinem geistigen Auge weißblaue Fahnen verbrennen und sich an die bayerische Botschaft anketten. In Ermangelung von Botschaft und Fahne verunglimpft er weiter unten in seinem Artikel einfach die bayerische Hymne. Nun gut, darf er, das ist ein freies Land. Und nachdem irgendwann dann doch jeder verstanden hat, dass man weder für Blogging, noch für Filmschnipsel auf YouTube noch für Podcasts eine Lizenz braucht, kehrt langsam wieder Ruhe ein. Angesichts der hysterischen Aufregung fragt man sich aber dann doch irgendwann: Wie wäre es, wenn wir den Chinesen in uns entdecken und zumindest der Polemik überführte Gscheithaferl doch dazu zwingen, eine Lizenz zu erwerben, bevor sie Gift verspritzen?
Die eigentliche Nachricht ging also unter. Nur Livestreams brauchen eine Lizenz? Wer Konserven ausstrahlt, braucht keine? Heisst das im Umkehrschluß, dass
RTL2 in Zukunft ohne Lizenz senden darf?
Samstag 13. Juni 2009 um 09:25
[…] Abschluß ein Blick in den Blog “Indiskretion Ehrensache”. Daß ich mit dem Autor nicht immer einer Meinung war hindert mich nicht daran, seinen Artikel “Bundesregierung vs. das Internet – die […]
Donnerstag 11. November 2010 um 18:12
[…] aus und manche Blogartikel übertrumpfen sich gegenseitig in Angriffen auf die GEMA. Kollektive Erregung allerorten, kein Wunder bei dem Thema. Die armen Kinder! Nicht singen. Lautlos, gespenstisch, werden sie in […]