Gesundheitsreform!
Wir haben gestern gesehen: Das Thema Gesundheit ist geeignet, Emotionen hervorzurufen. Selbst Wikipedia klingt spitzig, wenn es um Gesundheitsreformen im allgemeinen geht:
Als Gesundheitsreform werden in Deutschland gesetzliche Eingriffe in die Rahmenbedingungen der Krankenversicherung bezeichnet.
Diese Reformen dienen meist der Stabilisierung des Beitragssatzes und sind in der Regel mit Einschränkungen der Leistungen, Erhöhung der Zuzahlungen an die sonst der Selbstverwaltung unterliegenden Versicherungen und Änderungen in der Bezahlung der Leistungserbringer verbunden. Die Beitragsänderungen wirken sich auf die Lohnnebenkosten der Arbeitgeber und auf die Lebenshaltungskosten der Versicherten aus.
Das Ziel von Gesundheitsreformen ist eine kurzfristige Veränderung der Finanzierung medizinischer Leistungen. Die Förderung präventiver Ansätze zur Verhinderung krankheitsbedingter Kosten spielte bei bisherigen Gesundheitsreformen eine geringe Rolle, da spürbare Ersparnisse erst nach mehreren Legislaturperioden einsetzen würden. Insofern wäre der Begriff Finanzierungsreform im Gesundheitswesen in der Sache präziser.
Ob das wohl satirisch gemeint ist? Wohl kaum. Mit welcher Reform verbindet man denn Positives? Bildungsreform? Gebietsreform? Hochschulreform? Währungsreform? Rentenreform? Steuerreform? Rächtschreibungsrephorm?? Immer ging es ums Wegnehmen, ums Zerschlagen, und es bleibt nicht bei der Form, die sich ändert, es ändern sich auch die Inhalte, aber die Form soll davon ablenken. Und das Reformhaus? Nun, das ist zumindest nichts Böses, es sei denn, man ernährt sich lieber von Junk Food und Marshmallows.
Womit wir wieder bei der Gesundheit sind: Wie sähe denn eine gute Gesundheitsreform aus? Ehrlich sollte sie sein, das beginnt beim Namen, die „Gesundheit“ soll nicht reformiert werden. „Neuordnung der Krankenversorgung“ – damit schafft man sich in einer Demokratie keine Mehrheit. „Regelung der Verwaltung der Siechen und Bresthaften“ – ja, ja, sicher doch. Behalten wir also ruhig den Namen, das ist nur Marketing. Und kümmern wir uns lieber um die Ziele:
- Die medizinische Grundversorgung steht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung.
- Kein Mensch muss aus finanziellen Gründen auf Behandlung verzichten.
- Jeder Mensch hat das Recht, seine Situation zu verbessern, beispielsweise durch Zusatzversicherungen.
- Wir sind Christen oder irgendetwas vergleichbares, d.h., wir helfen einander.
- Krankheit ist ein individuelles Unglück. Die Gesellschaft ist dafür nicht schadensersatzpflichtig.
- Man darf das Einkommen von Menschen nicht an ihren Zähnen ablesen können.
- Aber an ihren Brillen.
- Was nichts mit dem Thema Medizin zu tun hat, ist auch nicht Gegenstand des Gesundheitswesens: Lohnfortzahlung, Betriebshelfer, Kinder- und Haushaltshilfen, Überführungen, Seenot- und Bergrettungen.
- Niemand darf gezwungen werden, etwas zu finanzieren, das er komplett ablehnt. Abtreibungen, Sterbehilfe, Stammzellenforschung.
Bei der Grundversorgung kann man ja gegen den Strom schwimmen und einmal versuchsweise nach England schauen. Ist das englische System wirklich so schlecht? Immerhin werden die Ärzte nicht dazu gezwungen, das unternehmerische Risiko zu tragen. Wobei echte Unternehmer mehr Einfluß haben auf ihr Unternehmen als Ärzte, die ja doch nur bestimmte Mengen von bestimmten Arzneien verschreiben dürfen und bestimmte Handgriffe gegen Monatsende nicht mehr machen dürfen, völlig unabhängig von der medizinischen Notwendigkeit. Die Gratwanderung zwischen Geldverdienen und Ethik ist in einigen Praxen sicher motivationshemmend.
Daher ist davon auszugehen, daß es sicher so manche Ärzte gibt, die eine Karriere als Vertragsarzt von Krankenkassen oder gar als öffentlich Angestellter mit ordentlicher und regelmäßiger monatlicher Entlohnung und vernünftiger Altersversorgung dem wirtschaftlichen Risiko einer freien Praxis vorzögen. Oder die ihre Praxis vielleicht erst nach ein paar Jahren Arbeit in einem Gesundheitszentrum eröffnen oder übernehmen wollen, ohne deshalb typische Positionen als Klinikarzt im 24-Stunden-Bereitschafts- und Schichtdienst zu bekleiden. Vielleicht will der Arzt auch nur für eine bestimmte Phase nicht Vollzeit arbeiten, beispielsweise, weil Kinder zu versorgen sind. Das geht weder in einem Krankenhaus, noch erst recht in der eigenen Praxis.
Verlassen wir England, sprechen wir über unsere Utopie. Die Grundversorgung ist geregelt, flächendeckend, für Bürger aus Steuermitteln, für Gäste gegen einen überschaubaren Obolus. Freie Praxen und Spezialisten gibt es natürlich weiterhin. Und das nicht nur in Großstädten. Aber um frei seinen Arzt auswählen zu können, muß man zuzahlen oder eine entsprechende Versicherung haben. Bei den Versicherungen herrscht Wettbewerb und Vielfalt, aber auf jeden Fall Freiwilligkeit: Jeder darf sich versichern, keiner muß. Natürlich herrscht kein Kontrahierungszwang auf Versicherungsseite, denn ein solcher benachteiligt die, die bereits in der Solidargemeinschaft sind. Wer sich als alter oder gar schwer kranker Mensch versichern will, ist spät dran und bezahlt hohe Prämien, vielleicht auch bei einer Versicherung, die sich auf solche Fälle spezialisiert hat. Wer sich hingegen bereits früh zusatzversichert, baut sich einen Anteil auf, den er bis ins hohe Alter nutzen kann. Dieser Anteil muß ähnlichen Anforderungen genügen wie Lebensversicherungen oder Pensionsversicherungen, die ja auch einer staatlichen Aufsicht unterliegen. Der Anteil wird jährlich ausgewiesen und kann beim Wechsel der Versicherung mitgenommen werden, was verhindert, daß der Wettbewerb auf Kosten der älteren Bürger stattfindet.
Eine Krankenversicherung ist übrigens eine Versicherung gegen den Krankheitsfall. D.h., sie schützt vor Ereignissen, die man nur in einer solidarischen Gemeinschaft meistern kann. Man kann sie aber auch als Abonnement sehen. D.h., man gleicht schwankende Kosten durch kalkulierbare Beiträge aus. Den zweiten Teil akzeptiert jeder, den ersten sehen erstaunlicherweise eher weniger Menschen so. Das Verständnis der Krankenkassen als Versicherung bedeutet für die meisten, mehr einzuzahlen, als sie vermutlich jemals herausbekommen. Was ja jedem zu wünschen wäre. Was aber nicht jeder so sieht.
Reiner Egoismus ist übrigens die verkehrte Strategie, das Samaritertum bringt nicht nur Punkte im Himmelreich. Auch auf Erden ist es sinnvoll, für die Gesundheit seiner Mitmenschen nach Kräften etwas zu tun. Dies sind nicht nur ästhetische Überlegungen (ab zwanzig Jahren werden unbehandelte Gebisse gerne schadhaft, was unschön aussieht), sondern es hat auch mit Volkshygiene zu tun. Beispiel? Nun, jeder wird wohl den Kampf gegen ansteckende Krankheiten schon aus Eigeninteresse gerne unterstützen. Und volkswirtschaftlich ist mir ein arbeitsfähiger Nachbar lieber als ein kranker.
Weniger einzusehen ist, wieso Kontaktlinsen, phototrope Gläser, modische Brillengestelle und Gleitsichtschliff komplett bezahlt werden müssen. Nicht, daß damit jemand gezwungen wäre, zu den sogenannten „Kassengestellen“ zurückgezwungen zu werden, die Rede ist von sinnvollen Zuzahlungen.
Völlig unübersichtlich wird es, wenn Kosten übernommen werden, die nicht einmal entfernt etwas mit Medizin zu tun haben. Einiges wäre Aufgabe von Schutzbriefen (Bergrettung, Seenotrettung, Überführung), anderes ist eine komplett andere Kasse (Lohnfortzahlung). Lassen wir nun verunglückte Skisportler ohne Schutzbrief auf der Piste liegen? Nein – aber wenn Kosten entstehen, trägt die nicht automatisch die Gemeinschaft. Und sozial Schwache? Die heutigen Krankenkassen schicken im Gegensatz zu den Privatversicherungen bei Mehrlingsgeburten beispielsweise Haushaltshilfen, was die Eltern sicher freut. So etwas muß aber, wenn überhaupt, direkt von der Gemeinschaft aller Bürger bezahlt werden, also aus Steuern. Schöne Gelegenheit für einen Wettbewerb der Kommunen oder Länder.
Was uns direkt zum nächsten Stichwort bringt: Wettbewerb. Interessant wäre folgendes Modell: Nehmen wir an, es gibt zwei Krankenversicherungen im Angebot. Die eine bezahlt keine Stammzellenforschung und auch keine Behandlung mit Ergebnissen der Stammzellenforschung und erst recht keine Behandlung mit Stammzellen. Die andere erlaubt Stammzellenforschung und bezahlt auch entsprechende Behandlungen. Nun wäre die jeweilige Kundenstruktur interessant: Wie viele gegen die Stammzellenforschung argumentierende Bürger wären Kunden der zweiten Versicherung? Das Modell ist nicht nur geeignet, Lippenbekenntnisse zu entlarven, es beendet auch den unerträglichen Zustand, daß jeder mit seinen Beiträgen derzeit Abtreibungen finanziert, auch der, der sich in seinen Augen dadurch schuldig macht.
Eine liberale Gesellschaft erlaubt ihren Mitgliedern, hier auszuscheren. So wären christliche Versicherungen und möglichst billige Versicherungen und ökologisch verantwortungsvolle Versicherungen und nüchterne technokratische Versicherungen in vernünftigem Wettstreit. Und niemand würde als unsolidarischer Schmarotzer bezeichnet, der seine Frau und seine drei Kinder privat versichert, anstatt sie alle auf seine Kassenversorgung anzumelden, ohne Aufpreis. Und wir alle wüßten, daß diese Art der Versorgung auch morgen noch finanziert und finanzierbar ist. Ach ja, die Pharmaindustrie wird es nicht mögen, aber Ärzte, Apotheker und Gesundheitszentren können natürlich weltweit Medikamente einkaufen, oder zumindest EU-weit. Vielleicht steigen dann die Preise in den USA oder in Spanien, aber hier würden sie sicher sinken, ohne daß deshalb die Forschung zum Erliegen käme. Und unsere Ärzte? Viele würden vielleicht hierbleiben, anstatt sich nach der Ausbildung schnurstracks in Richtung nächster Grenze zu begeben. Ja, derzeit werden Ärzte sogar nach England abgeworben. Und irgendwie müßte man einige Generationen lang nichts mehr reformieren. Völlig utopisch?
Wir schlagen noch mal den gestrigen Artikel im Stern auf. Andreas Hoffmann, der Autor des eingangs zitierten Artikels, verliert die journalistische Distanz.
Am Sinn der Reform zweifelt Ulla Schmidt jedoch nicht. Sie will ihre Idee umsetzen. Und Angela Merkel denkt an das Jahr 2003, als die CDU in Leipzig ein umjubeltes Reformprogramm beschlossen hatte. Der Gesundheitsfonds komme dem damaligen Konzept nahe, sagt ein hochrangiger Unionspolitiker: „Das will sie nicht aufgeben.“
Der Gesundheitsfonds als Selbstverwirklichung einer Kanzlerin. Warum belegt sie nicht einfach einen Töpferkurs in der Toskana?
Gut gebrüllt, Löwe!
Donnerstag 8. Mai 2008 um 14:42
„Einschränkungen der Leistungen, Erhöhung der Zuzahlungen“ sind Lohnkürzungen hinten herum, vgl. Peter Bofinger in , März 2006.
Samstag 8. August 2009 um 17:42
[…] Privatsache, darf also auch nicht zugunsten des Staatssystems enteignet werden. Das ist nicht neu, darüber habe ich hier schon geschrieben. Die Verantwortung für das Schlamassel zu den […]