Warnschuß vor den Bug
Die Europawahl ist vorbei – ein Desaster für die beiden Volksparteien. Beim Bundeswahlleiter gibt es das amtliche Endergebnis. Wenn das so weitergeht, wird man eine Koalition aus SPD und CDU/CSU kaum als „große Koalition“ bezeichnen können. Eine Zweidrittelmehrheit ist das jedenfalls nicht mehr.
Aber die CSU ist drin. Wäre sie es nicht, hätte das vielleicht endlich einmal eine Diskussion angestoßen, wieso die CSU bundesweit über fünf Prozent aller Stimmen braucht, aber nur in Bayern gewählt werden kann. Das ist schwer vermittelbar. Solange sie komfortabel über fünf Prozent liegt, interessiert das niemanden. Aber dann? Andererseits, angesichts ihrer Politik wäre es ja vielleicht doch kein so großer Verlust für uns gewesen. Die Stimme für Bayern? Na eher die Stimme für Eskalation, für halbherzige Verbote, Irreführung der Wähler, Lavieren, unerträglichen Populismus. Schade eigentlich.
Warum überhaupt darüber nachdenken? Nun, wie ich sehen mußte, bin ich ja der CSU näher, als ich je gedacht hätte. Aber die Gegenstände, in denen wir uns nicht treffen, fallen alle unter condicio sine qua non. Was sich im übrigen wirklich so schreibt, denn es kommt von condicere (vereinbaren), nicht von condire (würzen). Aber schon die Römer machten das gerne falsch, sogar noch in Zeiten der Republik, und vereinbarten fälschlicherweise Konditionen und nicht Kondizionen. Sportler haben eine Kondition, da stimmt es mit der Würzmischung. Wobei nicht die Rede vom Radsport sein soll.
Zurück zum Thema: FDP und Grüne haben gut abgeschnitten. Irgendwo mußten die enttäuschten Wähler der ehemaligen Volksparteien ja hin – und dass es nicht die LINKEN waren, die diese Stimmen bekommen haben, beruhigt. Schaut man genau hin, ist die FDP sogar der eindeutige Wahlsieger, die Graphik macht es deutlich. Die Spalte „DeltaPromille“ ist einfach die Differenz der jeweiligen Prozente, multipliziert mit 10, um die Unterschiede leichter erkennbar zu machen.
Die Sieger
Publizistisch Sieger ist die CSU. Eine Partei, die gerade ein Zehntel ihrer Wähler verloren hat, nimmt einen „eindeutigen Aufwärtstrend“ wahr. Dabei hat sie bei Licht betrachtet mehr verloren als die SPD. Diese wiederum wird aber von der Presse als größter Verlierer bezeichnet. Muß man nicht verstehen.
Emotional bei den Siegern, aber vermutlich eine Randerscheinung: die Piraten. Eine Partei, die in der deutschen Öffentlichkeit bis jetzt kaum in Erscheinung tritt, die insbesondere vom Fernsehen und den üblichen Zeitungen für gewöhnlich ignoriert wird, und dann entscheidet sich doch annähernd jeder hunderste Wähler für diese Leute. Das Programm ist diffus. Die Ziele sind vor allem dann unklar, wenn es um Themen geht, die nichts mit Informationsverarbeitung, Urheberrecht und elektronischer Kommunikation zu tun haben. Ohne boshaft klingen zu wollen: Diese Partei spiegelt wider, was herauskommt, wenn Nerds sich als Seeräuber verkleiden. Es gibt also doch recht viele Menschen, die bereit waren, ihre Stimme einer Gruppierung zu geben, von der man bereits bei der Wahl sicher sein konnte, daß sie nicht ins Parlament kommen würde. Man nannte so etwas früher „Stimmen verschenken“. Das kann man aber auch anders sehen. Diese Stimmen hätten bei den etablierten Parteien keine Verschiebung hervorgerufen, aber sie haben gezeigt, was passiert, wenn die Berliner Republik weiter glaubt, das Volk sei nur zu doof zu verstehen, daß man alles zu ihrem Besten regle.
Und nocheinmal zum „verschenken“: Wie das schwedische Beispiel gezeigt hat, hat solch eine Partei durchaus Chancen. Die schwedischen Piraten stellen einen Abgeordneten. Was nicht verwundert, denkt man über kürzliche Ereignisse in Schweden nach.
Chancen erkennen
Aber knapp ein Prozent, das ist beachtlich. Zuerst muß man sich klarmachen, wieso es diese Partei überhaupt gibt. Der Grund ist das jämmerliche Versagen der FDP in den 90ern, als sie geschockt vom Machtverlust alles über Bord warf, was sie mal so attraktiv gemacht hatte. Aus der Partei der Bürgerrechte eines ehemaligen Bundesinnenminister Baum war schleichend zunächst die Partei der Besserverdienenden und dann die Partei der Besserverdienenwollenden geworden. Spaßpartei für BWL-Studenten, personifizierter Größenwahn mit Guidomobil und dem Projekt 18. Allmählich schwingt das Pendel wieder zurück. Wäre das bereits weiter fortgeschritten, wären jene 0,9 % keine Piraten, sondern auch noch FDPler. Möglicherweise. Aber wenn die Themen der Piratenpartei wieder im Parlament vertreten sind, durch kompetente Politiker, hat sich die Notwendigkeit der Piraten erledigt.
Goldene Zitronen
Gut, und damit ist klar, der Sieger ist die FDP. Die goldene Zitrone hingegen geht an die SPD, die mal wieder so richtig unglücklich agiert hat. Anhand des Themas Bürgerrechte konnte man so richtig schön sehen, wie man ein Thema vergeigen kann, bei dem man eigentlich hätte punkten können. Denn, auch wenn der Sozialismus und die Sozialdemokratie davon reden, daß das Volk erzogen werden müsse, so ist der durchschnittliche SPD-Wähler eher aufmüpfig. Was einer der Gründe ist, wieso diese Partei lustvoll alles demontiert, was Autorität ausstrahlt, also auch regelmäßig den eigenen Vorsitzenden, Kanzler oder auch nur Kanzlerkandidat. Das ist gelebte corporate identity, kann man nichts machen. Auch Herrn Steinmeiers Tage sind gezählt. Sobald er möglicherweise Erfolg hat, fällt er dem Scherbengericht anheim. Hat er keinen, auch.
Damit ist klar, der hier ausreichend kommentierte Zensursula-Vorfall hätte sich angeboten, wählerstimmenbringend kritisiert zu werden. Aber ach, der Mut war nicht da. Frau Justizministerin Zypries wandte sich zwar gegen die Mauscheleien mit jenen fünf handverlesenen Provider-Unternehmen. Nachdem aber die Presse zunächst noch allzu brav alles des Verbrechens der Kinderpornographie zieh, was nicht eifrig zu den Stoppschilderplänen Ja und Amen sagen wollte, bekam sie kalte Füße.
Nun ging es nur noch um Effizienz und Grundgesetz, die Einführung der Stoppschilder war ja schon beschlossene Sache. Und somit überholte sie gleich noch Herrn Schäuble rechts, der nicht wusste, wie ihm geschah: Das BKA sollte Zugriff auf die Daten der Bürger erhalten, die auf ein Stoppschild surften, ob freiwillig oder aus Versehen, ob ferngesteuert über Viren oder Spam oder durch boshafte Mailempfehlungen. Jeder, der das Schild mehrfach sieht, muß sich einen Anfangsverdacht gefallen lassen. BKA und Justizministerium im Gleichschritt.
Chancen verpassen
Es ging also nur darum, Frau von der Leyen nicht das ganze Feld zu überlassen. Traurig. Jetzt, nach der Anhörung, aber noch vor der Wahl, waren einige Abgeordnete hellhörig geworden. Man kann nicht jedem Abgeordneten vorwerfen, dass er sich nicht überall auskennt. Auch nicht, wie leicht sich Spitzenpolitiker von einer Handvoll altkluger Kinder vorführen lassen. „Was war denn nun schon wieder ein Browser?“. Wittgenstein hat bekanntlich gesagt, worüber man nicht reden könne, darüber müsse man schweigen. Er hat es zwar in einem völlig anderen Kontext gesagt und das Zitat passt eigentlich hier nicht her, aber die Versuchung ist zu groß, ich lasse es stehen. Ignoranz und Borniertheit kann man einem Abgeordneten hingegen sehr wohl vorwerfen. Und so gingen weitere Stimmen perdü, als Dr. „Gaga Gogo“ Wiefelspütz laut darüber phantasierte, was man schönes mit der Zensurplattform noch so anstellen könne. Zum Beispiel „verfassungsfeindliche“ Inhalte sperren. Darüber hat sich Thomas Stadler schon professionell geärgert, das zitiere ich einfach nur.
Das war also der Auftakt unseres Superwahljahres. Wahlgetöse und nun das. Das kann ja noch heiter werden. Angesichts solcher Zustände in Berlin wundert es nicht, daß die „Sonstigen“ mit gut über zehn Prozent bereits zweimal die 5-Prozent-Hürde nehmen könnten. Jeder zehnte Wähler ist nicht im Parlament vertreten. Von den Nichtwählern ganz zu schweigen, aber wenigstens hier war keine weitere Verschlechterung zu beklagen, es waren wenige bei der Wahl, aber wenigstens nicht weniger als sonst. Und von den wenigen haben auch noch 2,2 Prozent ungültig gewählt.
Pisa oder Protest?