Alter Schwede
Einer meiner Lieblingsfilme ist „conspiracy theory“ mit Mel Gibson und Julia Roberts. Auf Deutsch hieß er „Fletchers Visionen“ – ein schwacher Titel, denn es ging ja nicht um Visionen. Es ging um Verschwörung. Wer überall Verschwörung wittert, ist weniger visionär, sondern eher paranoid (παρὰ „neben“, νοῦς „der Verstand“, macht zusammen παράνοια).
Paranoia ist nicht unpraktisch, wenn man spannende Dinge schreiben will. Nur der Paranoiker hat die Gabe, wirklich eins und eins zusammenzuzählen, wie man so schön sagt, denn er sieht alles von allen Seiten zugleich, nichts entgeht ihm. „A Beautiful Mind“ mit Russell Crowe, die Verfilmung des Lebens des genialen Wissenschaftlers John Nash, zeigt die häßliche Seite der Paranoia: Die Verschwörung findet nur in seinem Kopf statt. Aber vermutlich haben sie diesen Film nur gemacht, um Verwirrung zu stiften. Wer ihnen auf die Schliche kommt, wird als geisteskrank hingestellt.
Wer sie wohl sein mögen? Ich hätte da schon eine Vermutung: Es ist die Musikindustrie. Frankreich haben sie bereits erobert. Hier in Deutschland wird eine höchst zweifelhafte Sperrplattform diskutiert, die sogar Gesetz werden soll. Auf dem Rücken gequälter Kinder wird etwas eingeführt, das sich die Musikindustrie schon lange gewünscht hat. Zufall? In Schweden werden die Spontis von „Pirate Bay“ zu drastischen Strafen verurteilt. Das Gericht war dabei nicht ganz unbefangen, wie sich danach herausstellte. Nachzulesen zum Beispiel beim ORF:
Rickard Falkvinge, Chef der schwedischen Piratenpartei, wirft der Copyright-Lobby im Gespräch mit The Local vor, „die Korruption nach Schweden gebracht zu haben“.
Harte Worte. Was sagt Europa dazu? Laut eigenen Angaben:
Die Kommission unterbreitete einen Vorschlag, wonach die Schutzdauer des Urheberrechts der ausübenden Künstler und Herstellern von Tonträgern auf 95 Jahre verlängert wird. Ziel des Vorschlags ist es, den Schutz der Künstler mehr in Einklang mit dem Urheberschutz der Autoren zu bringen.
Weiter unten sieht man:
Schließlich werden die Plattenfirmen einen Fonds einrichten müssen, in den sie 20% ihrer Einnahmen zahlen, die während des erweiterten Zeitraums anfallen. Dieser Fond wird an die Studiomusiker verteilt, deren Aufnahmen in der verlängerten Schutzdauer verkauft werden.
Das soll den Künstlern helfen? Das hilft doch nur der Musikindustrie. Sollen hier wirklich Autoren und interpretierende Musiker gleichgestellt werden? Das sind doch nicht die Entsprechungen, da müsste man Schauspieler und Komponisten ebenfalls gleichstellen. Das will keiner. In Wahrheit hat die Musikindustrie auf einmal die Chance, aus traditionell kurzlebiger Pop-Musik noch zig Jahre lang Profite ziehen zu können. Die meisten Künstler wären schon froh, würden sie einfach anständig bezahlt. Ein Musiker freut sich über eine angemessene Gage für eine Mugge („Musikergelegenheitsjob“, das früher in Musikerkreisen sehr gebräuchliche Wort hat sich heute merkwürdig verselbständigt). 95 Jahre lang Auszahlungen aus einem Fond? So alt wird keiner. Aber der Wert gehandelter Rechte steigt…
IPRED heißt die EU-Richtlinie, die derzeit in Schweden für Ärger sorgt. Kurzfassung: Urheberrechtsverletzungen sollen einfacher geahndet werden. Provider werden gesetzlich verpflichtet, etwas zu tun, das ihnen gerade noch aus Datenschutzgründen verboten war: Das Übermitteln personenbezogener Daten an Dritte. Daten, auf die die Musikindustrie somit direkt Zugriff bekommen soll, um ihre „Räuber“ und „Piraten“ zu fangen. Bei uns bedarf es des Umwegs über Europa nicht. Manche Staatsanwälte weigern sich zwar noch, sich zum Büttel der Musikindustrie machen zu lassen. Manche Gerichte sehen es ebenfalls so, dass nicht alle Rechte zurücktreten müssen vor den Rechten der Musikindustrie. Verfolgt wird bei uns immer noch nur gewerbliche Urheberrechtsverletzung. Was wiederum einige Gerichte (z.B. das OLG Köln) nicht daran hindert, bereits bei einer Handvoll MP3-Dateien von gewerblichem Umfang auszugehen. Die Richtung ist klar. Angela Merkel hat sich bereits vor den Karren spannen lassen, mit ihrem berüchtigten „Offenen Brief“ letztes Jahr. Auf Dauer werden wohl auch bei uns nur Maßnahmen zur Durchsetzung eines nur selten hinterfragten Rechtsanspruchs diskutiert, anstatt einfach die Situation von Künstlern zu verbessern. Ich wiederhole mich: Dank Internet haben die Künstler heute die Chance, ihre Kunst wieder direkt zu vermarkten, ohne von einer kompletten Industrie abhängig zu sein. Was sprach eigentlich gegen das System der Mäzene und der staatlichen Förderung? Das hat sich ein paar tausend Jahre bewährt…
Ich hoffe, ich werde nicht mißverstanden: Ich werde den Teufel tun, den Künstlern ihre Rechte abzustreiten. Ich streite nicht einmal der Musikindustrie ihre Rechte ab. Ich bin lediglich besorgt und verärgert über die Methoden der Industrie und das völlige Ignorieren des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Und ich mag Heuchelei und Pharisäertum nicht: In zahlreichen Kampagnen wird vorgerechnet, wieviel Geld die kopierenden Jugendlichen der Musikindustrie vorenthalten und es wird so getan, als käme das Geld gewöhnlich den Künstlern zugute. Keiner erwähnt, wie wenig die Künstler letztlich von der Musikindustrie bekommen und niemand macht sich die Mühe auszurechnen, wie aus Taschengeld jemals ein Milliardenmarkt werden soll.
Zurück zum Thema: Die schwedischen Provider jedenfalls lassen sich nicht einspannen gegen ihre Kunden. Von denen ja, und darum geht es, die überwiegende Anzahl brav alles bezahlt, was sie nutzt. In einer aktuellen Pressemitteilung wird von ihrer Gegenwehr berichtet:
Schwedische Provider löschen IP-Daten von Kunden
ISPs widersetzen sich Auskunftspflicht gegenüber der Medienindustrie
Stockholm (pte/30.04.2009/06:10) – Der schwedische Internetprovider Tele2 hat angekündigt, Daten, die eine Identifikation des Kunden anhand seiner IP-Adresse ermöglichen, nicht mehr zu speichern. Diese Nicht-Speicherung bzw. Löschung der Informationen, welche IP-Adresse zu einem gewissen Zeitpunkt einem Nutzer zugeordnet war, geschehe zum Schutz der Privatsphäre der Kunden, begründet Tele2. Der Internet Service Provider (ISP) schließt sich damit den Webzugangsanbietern „All Tele“ und „Bahnhof“ an, die bereits zuvor den Verzicht auf die Speicherung angekündigt hatten.
Und die Musikindustrie schäumt über den unerwarteten Widerstand. Ihr Anwalt bringt es auf den Punkt, weiter unten in derselben Mitteilung:
Wenig erfreut von der Ankündigung der Provider sind Vertreter der Medienindustrie. Peter Danowsky, Anwalt des Branchenverbandes IFPI, zeigt sich verärgert und macht keinen Hehl daraus, dass er härtere Gesetze fordert. „Jeder im Parlament hat unter der Annahme gehandelt, dass die ISPs sich gegenüber dem Gesetzgeber loyal verhalten und nicht von Rechtsbrüchen profitieren wollen“, moniert Danowsky. Sollten auch andere Provider dem Vorbild folgen, werde man für entsprechend schärfere Gesetze sorgen, poltert der IFPI-Anwalt.
Der Anwalt weiß jetzt schon, daß man für schärfere Gesetze sorgen werde? Da ist sie wieder,
meine Paranoia.
Bildquelle: dreammagic.com