Kavaliersdelikt
Ist Steuerhinterziehung ein Kavaliersdelikt?
Beim Kavaliersdelikt schwingt doch noch sehr hörbar der Kavalier mit. Also muss der, der ein Kavaliersdelikt begeht, Kavalier sein. Kavalier in diesem Sinn ist sicher nicht ein braver Bub, der einer alten Dame den Platz in der Trambahn räumt („der kleine Kavalier“) und auch nicht der Galan oder Cicisbeo („sie kam in Begleitung eines Kavaliers“), sondern eher der Chevalier (frz.: Ritter).
Ein Adeliger tut sich also naturgemäß leichter mit Kavaliersdelikten, und damit ist der Fall klar: Ehrenhändel beispielsweise sind sicher Kavaliersdelikte. Dafür gab es maximal Festungshaft. Studentenstreiche sind Kavaliersdelikte. Eine Nacht im Carcer oder auch deren mehrere sind nicht ehrenrührig. Selbst eine gewöhnliche Haftstrafe entehrt nicht automatisch, denken wir nur an Herrn von Eisenstein in der Fledermaus, der sich zu Recht mehr Sorgen um sein Souper macht als um seine Zukunft als Vorbestrafter. Eine Nacht im Gefängnis mag lästig sein, aber sie schadet nicht automatisch der Satisfaktionsfähigkeit.
Ladendiebstahl, Schwarzfahren, Versicherungsbetrug, Steuerbetrug – das passt nicht zu Ehrenleuten. Somit können dies keine Kavaliersdelikte sein. Vielleicht sprechen wir also besser von Bagatellstraftaten? Das sieht die Bevölkerung hier recht gemischt. Erstaunlich, wie viele Leute Zumwinkel auf den Scheiterhaufen wünschen, aber Ladendiebstahl für eine Bagatelle halten und darauf achten, bei jeder Versicherung mindestens die Prämie „wieder rauszuholen“.
Der Begriff der Bagatelle ist also gar nicht so allgemeinverständlich, Das führt uns via Google flugs zurück zum Thema Steuerhinterziehung, wenngleich auf Umwegen. In der Vossischen Zeitung (Morgen-Ausgabe) von 1.3.1905, gefunden als Textquelle des „Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache“, lesen wir auf Seite 1:
Er denkt vielleicht auch, daß in allen diesen Fällen gleichermaßen die wichtigsten Grundsätze des Rechts in Frage kommen können, die eine gleichmäßige Entscheidung gebieten. Wenn nun in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten eine Revisionssumme, eine recht hohe, nötig sein soll, weshalb soll bei jeder Bagatelle des Fiskus das Reichsgericht mit dicken Aktenbündeln behelligt werden dürfen? Wir glauben, daß der Präsident, der Referent und die Mitglieder des Senats mitunter gern in die Tasche greifen und die streitige Summe zahlen möchten, um der Notwendigkeit der zeitraubenden Beratung und Entscheidung überhoben zu sein.
Interessant! Das klingt ja wie heute, der Bürger schüttelt 1905 wie heute den Kopf über staatliche Arroganz und Ungerechtigkeit. Gegen Ungerechtigkeit aufzubegehren ist durchaus ehrenhaft, aber nur, wenn es nicht aus selbstsüchtigen Motiven geschieht. Als ungerecht empfundene Gesetze bricht man nicht, man ändert sie.
¡Vamos, caballeros!