Gallina caeca
Immer wieder kann man es hören: Ein blindes Huhn findet auch einmal ein Korn. Was für eine Gedankenlosigkeit, was für eine rohe Sprache. Auch wenn sich der eine oder andere darauf berufen will, daß es sich um ein altes Sprichwort handele, so ist das doch eine lahme Entschuldigung.
Es beginnt natürlich mit der Bezeichnung „blind“. Sagt man nicht mehr. Zumindest bei den Sportnachrichten. Da gewinnt eine blinde Münchenerin in Vancouver bei den Paralympics ihre x-te Goldmedaille. Auf Skiern: Biathlon und Langlauf sind die Spezialität der Sportlerin. Die, wie erwähnt, blind ist, was meinen Respekt noch steigert. Doch „blind“ sagt man nicht. Das heißt jetzt „sehbehindert“, zumindest in Offiziellsprech. Und schon läßt der Respekt nach, „sehbehindert“ bin ich auch, immerhin bin ich kurzsichtig und darf ohne Brille nicht autofahren. Und ja, Verena Bentele ist blind, das ist es ja gerade, und sie läßt sich davon nicht behindern. Und ich kommentiere jetzt mal nicht, wie ich es finde, daß jemand, der nicht sehen kann, unbedingt mit einem Gewehr hantieren muss. Wobei ich das auch bei den Sehenden überflüssig finde, Langlauf alleine reicht doch.
Ein sehbehindertes Huhn findet auch einmal ein Korn.
Immer noch ziemlich diskriminierend. Inzwischen sind es nicht mehr nur latzhosentragende Gleichberechtigungsvorkämpfer. Jeder Arbeitgeber weiß: Man scheue geschlechtsspezifische Ausdrücke wie die Pest, dem AGG sei Dank. Wofür gibt es das fürchterliche Binnen-I oder den alleslösenden Schrägstrich? Aber „Hu/ahn“ – das ist schon sehr gewagt. Nur, was spräche denn gegen:
Ein sehbehindertes Huhn (m/w) findet auch einmal ein Korn.
Merken Sie was? Soziale Kälte. Da ist das arme Huhn sehbehindert, aber die Gesellschaft zwingt das Huhn, seine Grundbedürfnisse trotz der erhöhten Schwierigkeiten selbst zu befriedigen. Für alles ist Geld da, aber seit die FDP am Ruder ist, führt eine Behinderung in die Armutsfalle. Setzen wir sprachlich ein Zeichen.
Jedes sehbehinderte Huhn (m/w) hat in der Solidargesellschaft das Recht auf ausreichend Korn
So ist gleichzeitig auch neutralisiert, daß vorhin die Rede davon war, daß das blinde Huhn einmal ein Korn findet. Das ist ja schon der nächste Reibungspunkt. Woher wissen wir denn, wie oft dieses Huhn Körner findet? Das wissen wir doch nur, weil wir Daten erheben, die uns im Grunde nichts angehen. Das zeigt doch, wie dieser Staat, wie diese Gesellschaft inzwischen mit den Schwächsten umgeht.
Ganz zu schweigen von der gedankenlosen Gleichmacherei bei der Ernährung: Hühner mögen vielleicht gar keine Körner? Hühner mögen Würmer und Käfer, Obst und Nudeln.
Jedes sehbehinderte Huhn (m/w) hat in der Solidargesellschaft das Recht auf ausgewogene, schmackhafte Ernährung in ausreichender Menge.
Na also. Geht doch.
Bildquelle: Wikipedia, Photograph: Stijn Ghesquiere, 2004